Der tote Obdachlose von der Bödekerstraße: Warum ließ Jim sich nicht helfen?

Der tragische Tod des obdachlosen Mannes, den alle nur Jim nannten, schockiert viele Nachbarn und auch die vielen Helfer, die sich in Hannover um die wohnungslosen Menschen kümmern. Ein Schicksal mit einer langen Vorgeschichte, die Fragen aufwirft. Laut Mario Cordes, Vorsitzender der Obdachlosenhilfe, litt der 59-Jährige an einer psychischen Erkrankung, die erklären könnte, warum er sich Hilfsangeboten bis zuletzt verweigerte: „Jim konnte sich nicht in geschlossenen Räumen aufhalten. Das war sein größtes Problem.“ Auf dem Lister Platz herrscht am Montagvormittag für Pandemie-Verhältnisse geschäftiges Treiben. Ein kleiner aber stetiger Strom von Passanten fließt aus dem U-Bahnschacht in Richtung Lister Meile auf. Senioren mit Einkaufskörben, junge Eltern mit Kinderwagen, aus der Filiale einer großen hannorverschen Bäckerei weht der Duft frischer Brötchen nach draußen. Wenige Meter weiter, an der Einmündung zur Bödekerstraße, steht unter einer Litfaßsäule eine brennende Kerze. Eine weitere brennt gegenüber unter einem Baum, zwischen Verpackungsmüll liegt ein frischer Blumenstrauß. Hier entdeckte ein Passant am Sonntagabend den leblosen Körper des Obdachlosen. Es war Jims letztes Lager, von anderen Plätzen war zuvor immer wieder vertrieben worden. Jetzt wird es zur Gedenkstätte für einen Menschen, der die Gemüter der Stadtgesellschaft spaltete. „Sein Tod macht mich traurig“: Den Anwohnern in der List war Jim seit Monaten bekannt. „Sein Tod macht mich sehr traurig, ein bedauernswertes Schicksal “, sagt eine Anwohnerin, die am Sonntag gegen 16 Uhr noch lebend neben Litfaßsäule liegen sah. Wind und Wetter sei er dort schutzlos ausgeliefert gewesen. „Wenn es geregnet hat, lag er da in seinem klatschnassen Schlafsack. Er hat das einfach so hingenommen“, schildert die Frau sichtlich bewegt Jims aussichtslose Lage. Unter dem Dach der U-Bahnstation sei er zwischenzeitlich immerhin noch geschützt gewesen. Von dort hatten ihn Protec-Mitarbeiter aber vor zwei Wochen vertrieben. Auch Axel Widiger aus der Bödekerstraße kannte Jim. „Ich habe ein paar Mal versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Das hat er aber abgeblockt. Er wollte in Ruhe gelassen werden, das habe ich respektiert“, so der Anwohner, für den Jim auch nur ein Mensch war, „der „im Leben gestrauchelt“ sei „Ich fühlte mich von ihm nie gestört.“ An der Hohenzollernstraße hatten sich noch viele Anwohner mit dem Wohnungslosen solidarisiert. Nachbarn hatten ihn versorgt, mit Essen, Kleidung und anderem, was er aber oftmals auch abgelehnt haben soll. Hilfen waren ihm so wenig willkommen wie offizielle Sozialfürsorge. Stadt bot Hilfe an: Als die Stadt seinen Lagerplatz räumte und dabei offenbar auch dessen spärliche Habseligkeiten entsorgte, gab es offenen Protest der Anwohner dagegen. Ordnungsrechtlich ist Lagern an öffentlichen Orten verboten. Die Stadt habe dem Mann auch immer wieder Angebote genannt, wo er unterkommen könne, sagt Stadtsprecher Udo Möller. Diese habe er aber bis zuletzt abgelehnt. Über Jahre schon. Denn solange ist er dem Ordnungsamt bekannt. 2016 hatte er offenbar zunächst in der Nähe des Hauptbahnhofs kampiert, war dann zur Marienstraße in die Südstadt weitergezogen, bevor er eine Weile am Königinnendenkmal an der Eilenriede lagerte. Fremdeinwirkung ausgeschlossen: Vor allem dort hatten sich Anwohner engagiert und den Wohnungslosen mit Nahrungsmitteln versorgt. Anderen hatte das geärgert, sie hatten sich an der Kleidung und den Essensresten gestört, die der Mann, offenbar auf Rad- und Gehweg verteilt hatte. „Er schreit auch nachts in einer Lautstärke, dass man es noch im fünften Obergeschoss hört“, hatte eine Anwohnerin berichtet. Zuletzt blieben Jim in der Bödekerstraße nur ein paar Meter zwischen Baum und Litfaßsäule. Dort ist er auch am Sonntagabend gegen 19 Uhr von einem Passanten entdeckt worden. Leblos, Fremdeinwirkung schließt die Polizei aus. Ob es eine Obduktion zur Ermittlung der genauen Todesursache geben wird, entscheidet am Dienstag die Staatsanwaltschaft. Jim soll psychisch krank gewesen sein: Wer war der Mann, dessen verelendeter Zustand die einen Menschen berührte und die anderen abstieß? Selbst seine Herkunft ist unklar. Mal heißt es, er sei Israeli, mal Norweger. „Ich habe gehört, dass er persische Wurzeln hatte“, sagt Mario Cordes, Vorsitzender der Obdachlosenhilfe Hannover. Er kannte Jim seit zehn Jahren und weiß auch um sein besonderes Schicksal. „Er hatte psychische Probleme, deshalb konnte er auch nicht in geschlossenen Räumen schlafen.“ Auch sein verschlossener Charakter und ein ausgeprägter Putzzwang – in der List hatte er sogar Häuserfassaden mit Scheuermilch bearbeitet – rührten demnach von einer seelischen Krankheit. „Als er noch am Hauptbahnhof war und wir ihn mit Essen versorgt haben, kam man manchmal tagelang nicht an ihn ran“, berichtet Cordes. Dazu kam die Unfähigkeit, sich und sein Quartier wenigstens einigermaßen sauber zu halten. Cordes erzählt, die Obdachlosenhilfe hätte Jim allein im vergangenen Jahr fünf Schlafsäcke geschenkt. „Die waren immer gleich wieder schmutzig und vollgemüllt. Das war auch eines seiner Probleme“, blickt Cordes betroffen auf ein tragisches Schicksal, dass am Ende selbst die engagiertesten Helfer nicht abwenden konnten. Cordes: „Jim war sehr speziell, deshalb tut es mir für ihn besonders leid.“ Lesen Sie auch Hannover: Obdachloser am Lister Platz bringt Anwohner gegen sich auf Obdachloser tot an Bödekerstraße aufgefunden Von André Pichiri und Verena Koll