Corona-Krise Hannover: Sind behinderte Kinder die Verlierer der Pandemie?

Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) will in der Corona-Krise eine landesweite Rückkehr zum Wechselmodell für Schulen nicht mehr kategorisch ausschließen. Viele Eltern versetzt diese Ankündigung in Alarmbereitschaft, doch für Eltern von schwerbehinderten Kindern wiegt der Satz des Kultusministers weitaus schwerer. Die heute elf Jahre alte Erlynia aus Linden kam gesund zur Welt. „War clever und in ihrer Entwicklung sehr weit“, erinnert sich Vater Boris Luther. Dann machten Ärzte des Kinderkrankenhauses Auf der Bult einen „groben Behandlungsfehler“, so steht es in einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Noch immer liegen die Eltern darüber im Rechtsstreit mit der Klinik, es geht um viel Geld, aber vor allem auch um Gerechtigkeit. Die Zweijährige erlitt im September 2011 einen Atemstillstand, musste 50 Minuten lang reanimiert werden. Ihr Gehirn wurde schwer geschädigt. Seitdem ist alles anders. Erlynia ist blind, kann sich nicht bewegen, nicht schlucken oder sprechen. 24 Stunden am Tag ist sie auf Hilfe angewiesen. „Denn zu jeder Zeit können lebensbedrohliche Zustände bei unserem Kind eintreten“, berichtet ihr Vater. Mit Corona begann für die Familie eine schwierige Zeit: Der Bonitas-Pflegedienst hat vor zweieinhalb Jahren die Versorgung des Kindes übernommen. „Unser Anspruch ist es, betroffene Familien bestmöglich zu entlasten“, sagt Pflegedienstleiterin Annika Schreiber. Doch eine 24-Stunden-Betreuung sei enorm personal intensiv. Mindestens fünf Vollzeitkräfte brauche es, um ein Kind wie Erlynia 365 Tage im Jahr zu betreuen, so Schreiber: „In Hannover ist das kaum umzusetzen, wir haben einen gewaltigen Mangel an Pflegekräften. Leider muss die Familie immer Kompromisse eingehen, das ist keine schöne Situation.“ Dann kam Covid-19. Kitas und Schulen mussten ab Mitte März wochenlang schließen, auch Erlynias Bildungseinrichtung, die Schule Forst Mecklenheide. „Damit hat für uns und unsere Tochter eine extrem schwierige Zeit begonnen. Mein Mann und ich mussten beide arbeiten, ich bin in der Pflege tätig, ich konnte einfach nicht zu Hause bleiben“, erzählt Mutter Benonia. Die große Schwester Marwela, mit ihren 14 Jahren selbst noch ein Teenager, habe Erlynia betreut, neben dem eigenen Homeschooling. Eigentlich eine untragbare Situation, denn so die Eltern: „Wenn Erlynia nicht zur Schule darf, empfindet sie das als Bestrafung. Sie macht der Person, die mit ihr dann zu Hause ist, das Leben zur Hölle. Das ist keine Aufgabe für einen Teenager.“ Wie jedem Kind tut es auch der Elfjährigen nicht gut, wenn ein geregelter Tagesablauf fehlt, weiß Benonia Luther: „Tagesstruktur ist das beste Mittel, um ihr Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln.“ „Erneute Schulschließungen wären eine Katastrophe“: Und eine weitere wichtige Säule im Leben des schwerbehinderten Mädchens brach mit den Schulschließungen weg: „Alle Therapien lagen auf Eis. Mit jedem Tag wurde Erlynias Körper steifer. Für ein Kind, das sich nicht bewegen kann, sind keine Therapien der Super-Gau“, sagt Vater Boris. Sie sei komplett ans Haus gefesselt gewesen, auch weil die Gefahr draußen zu groß gewesen wäre, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Seit kurz vor den Sommerferien kann Erlynia wieder zur Schule gehen. Ein Hauch von Normalität ist damit zurückgekehrt. „Es tut ihr sehr gut, sie ist viel ausgeglichener und fröhlicher. Erneute Schulschließungen wären für unser Mädchen eine Katastrophe“, so die Mutter. Lesen Sie auch: Sorge in Niedersachsen: Bald flächendeckend Szenario B an Schulen? Schulleiter der Mühlenberger IGS: „Lieber Szenario B als Maskenpflicht“ Niedersachsen: Keine Vorweihnachts-Quarantäne für Schüler „Inklusion ist gescheitert“: Mutter sucht verzweifelt Schulbegleiter Von Britta Lüers