Wie Activera-Chef Wotschke sich ins Leben zurückkämpfte

Manchmal ist es nur eine Sekunde, in der die Weiche für den Rest eines Menschenlebens gestellt wird. „Es ging von 100 runter auf null“, sagt Detlef Wotschke (53) über den 5. Februar 1999, als ein Sturm über das Messegelände fegte – und eine Leichtbauhalle über dem Inhaber einer Baumschule, der damals den Messestand für die ABF vorbereitete, zusammenbrach wie ein Kartenhaus. Schädel-Hirn-Trauma, Gehirnblutung, halbseitige Lähmung, epileptische Anfälle, Spastiken. „Alles, was man nicht braucht“, sagt der 53-Jährige, den man für Anfang 40 halten könnte, mit klarer fester Stimme – und nicht ohne Ironie. Dass Detlef Wotschke lebt, ist fast ein Wunder. Dass er spricht, aufrecht sitzt, geht und seinem Gesprächspartner selbstbewusst die linke Hand zur Begrüßung reicht, ebenfalls. „Ich bin dann halt Linkshänder geworden“, sagt er im lockeren Plauderton. Doch wenn man sich länger mit dem Mann unterhält, der dem Tod diverse Male die Stirn geboten hat, wird klar, dass sein Kampf ums Leben das Zeug für eine griechische Tragödie hat. Er lacht. „Nennen Sie es Schicksal.“ Ein Schicksal, das er selber in die Hand genommen hat. Wotschke: „Ich erkenne Chancen am Tiefpunkt“: Heute ein erfolgreicher Unternehmer, gern gesehener Gast auf Partys und gesellschaftlichen Events, über Nacht ein Pflegefall – „und wirtschaftlich dem Ruin geweiht. Die Banken haben mich im Stich gelassen, die Berufsgenossenschaft wollte nicht zahlen, die Zahl der Freunde hat sich auf eine Handvoll reduziert“, erzählt Wotschke ohne Bitterkeit in der Stimme. Intensivstation, unzählige Reha-Aufenthalte, eineinhalb Jahre verbringt er in Kliniken. „Mir wurde gesagt, dass ich mich mit dem Rollstuhl anfreunden soll.“ Will er aber nicht. „Es gab dunkle Tage, Wochen, Monate. Aber ich sehe das Leben positiv, erkenne Chancen am Tiefpunkt.“ Detlef Wotschke kämpfte. Und fing ein neues Leben an. Ein Leben, das nicht nur ihm, sondern auch anderen Betroffenen den Alltag leichter macht. So helfen Activera-Produkte Menschen mit Behinderung: Er abonniert die „Medical Tribune“, macht sich schlau. „Ich als Patient wusste oft mehr als die Ärzte“, sagt er mit einem Schmunzeln. 2002 gründet Wotschke die Firma Activera. Sein erster Coup ist ein Sitzkissen mit Motor – weil er es leid war, jedes Mal um Hilfe bitten zu müssen, um von einem Stuhl aufstehen zu können, recherchiert er. Und findet das Produkt auf dem internationalen Markt. Wie auch die Griffhilfe mit Magnet, oder den „Beauty Lifter“, der Tränensäcke bekämpft, aber auch die Schmerzen in Gesichtsnerven lindern kann. „USA und Kanada sind weiter in Sachen Alltagshilfen“, stellt er fest. Was auch an der Finanzierung durch deutsche Krankenkassen liege – „die denken oft nur 08/15“. Doch jedes Leben mit Behinderung oder Einschränkung ist individuell, braucht maßgeschneiderte Lösungen. Mit Activera (hat heute vier Mitarbeiter) importiert er Hilfsmittel, verfeinert deren Funktion, findet die Antworten auf Probleme aus allen Lebensbereichen, die von Betroffenen an ihn herangetragen werden. „Das fängt beim Brotschmieren an und hört bei der LED-Lampe für den Laptop auf.“ Ein Hit – auch bei Menschen ohne Handicap – ist der „Flipstick“, den Wotschke aus England importiert. Ein Spazierstock, der sich mit einem Handgriff zum Sitz umfunktionieren lässt. „Beim Gartenfestival in Herrenhausen waren wir nach zwei Tagen ausverkauft – das Modell in Sonnengelb war der Renner.“ Sonnengelb ist eine Farbe, die in Wotschkes Leben nach dem Unfall lange keinen Platz hatte. „Ich hatte Angst, nach draußen zu gehen, ich wollte nicht angegafft werden“, sagt der Mann, der heute so großen Optimismus ausstrahlt. Doch dann kommt die Expo 2000, die Weltausstellung rettet ihm quasi das Leben. „Ich war 21-mal da. Es war meine Chance, die ganze Welt kennenzulernen.“ Und zu sehen, dass es andere Rollstuhlfahrer gibt, andere Menschen mit Behinderung. Was folgt sind „hervorragende Therapeuten, Tränen und Schweiß, ich bin oft über die Grenze gegangen“. Immer an seiner Seite: Ehefrau Sabine (53), in diesem Jahr feierte das Paar Silberhochzeit. „Ohne sie wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt stehe.“ Ein Freund rettet ihn vor dem „Grand Mal“: Wotschke hat viele Schutzengel. Einer schaut am tief verschneiten Heiligabend im Jahr 2000 vorbei, als das „Grand Mal“, das große Böse zuschlägt – so nennen Mediziner die tödliche Mischung aus Herz- und Atemstillstand bei einem epileptischen Anfall. „Jemand hatte den Stecker gezogen“, scherzt der 53-Jährige. „Zum Glück war damals ein Freund im Haus, der Krankenpfleger ist. Er hat mich reanimiert und am Leben gehalten, bis der Rettungswagen da war. Das ist der dritte Geburtstag, den ich feiere.“ Activera ist Wotschkes Baby, er hat das Unternehmen aufgebaut, sprudelt vor Ideen (für die er auch nachts einen Notizblock am Bett liegen hat). „Wenn ich etwas mache, dann zu 150 Prozent. Mein Kopf funktioniert, aber ich akzeptiere, dass ich körperlich eingeschränkt bin.“ 20 Jahre nach dem Unfall hält er deshalb die Augen auf nach einem Nachfolger, der das „Baby“ weiter in die Zukunft führt. Einstellungskriterium ist Leidenschaft für das Thema. „Leidenschaft ist ja ein zweideutiges Wort“, sagt der 53-Jährige und ein feines Lächeln spielt um seine Mundwinkel. Keiner weiß es besser als er. Von Andrea Tratner

Unfall - Wie Activera-Chef Wotschke sich ins Leben zurückkämpfte